Nur ganz kurz

June 16, 2025

Leon sah durch das Fenster, wie die dunklen Wolken weiss blitzten. Sein Kopf auf die Hand gestützt, hörte er der Stellvertreterin zu. Vor kurzem war der Hauptlehrer wieder krank geworden, weil einige ungehorsame Schüler ihm den Burn-out auslösten. Die Stellvertreterin redete etwas über Aufgaben, die man lösen sollte. Folglich klappte die ganze Klasse die iPads auf.

Als es erneut donnerte, blickte er wieder kurz nach draussen. Der Himmel wurde dunkler. Dabei hörte er seine Klassenkameraden zu, wie sie zu tippen begannen. Er kratzte sich am Kopf und beobachtete ihre Bildschirme, währendessen die Stellvertreterin an der Wandtafel kräftig mit einer unlesbaren Schrift die Aufgaben schrieb. Sie schleuderte die Wandtafel nach oben und rief wütend: «Beginnt eure Aufgaben zu machen!»

Leon rückte näher zum Pult und begann auf dem iPad hin und her zu wischen. Er schielte auf die Bildschirme der anderen Schüler. Genau in diesem Moment drehte sich die Stellvertreterin zur Klasse. Sie starrte ihn an, als würde sie ihm drohen. Leon schaute sofort auf sein iPad zurück. Er versuchte sich hinter dem iPad zu verstecken.

Einen Augenblick später klopfte es an der Tür. Er zuckte und hielt sich wieder aufrecht. Die Schüler blickten jetzt alle zur Tür. Die Stellvertreterin marschierte kurz durchs Klassenzimmer wie ein Offizier, bevor sie die Tür öffnete. Ein alter Mann in einem nassen Mantel stand vor der Tür. Der Mann wollte kurz mit ihr reden. Also schloss sie die Tür hinter sich.

Leon war erleichtert. Endlich war er den bösen Blick der Stellvertreterin los. Die Schüler waren alle für einen kurzen Moment still, bis einer über die Stellvertreterin redete. Infolgedessen wurde die Stille zu einem Geflüster. Auf dem iPad klickte er auf die Aufgabe.

Mittlerweile hatte der Sekundenzeiger mehrere Umdrehungen gemacht. Er hatte zwar schon die Mehrheit der Aufgaben gelöst, doch niemand kam und hielt wieder Aufsicht. Ihm gefiel der heutige grausame Tag nicht. Er konnte sich nicht mehr anstrengen. Ausserdem war die Hälfte der Jungs am Spielen. Kurz auf eine Werbung gedrückt, poppte ein Game auf. In nur weniger Zeit begriff er das Spiel, sodass er abgelenkt war. Er schob das iPad zu sich näher.

Es grollte wieder. Da öffnete die Stellvertreterin die Tür, ein Blatt Papier in der Hand haltend. Ihr Körper war entspannt, aber bald wurde ihr Blick wieder seriös. Er merkte die Präsenz der Lehrerin und wischte vom Spiel zur Aufgabe. Auch das Geflüster wurde zu einer Stille. Sie schlug eine durchsichtige Mappe auf ihr Pult, als würde sie eine fliege schlagen.

«Ruhe!», schrie sie, obwohl längstens niemand mehr sprach.

Sie lief zu den Schülern und beobachtete sie. Genau Leon starrte sie wieder durchdringend an. Seine Finger schwitzten und zitterten. Anstatt die Aufgabe öffnete er aus Versehen das Spiel. Auf einmal befahl sie: «Du, kleiner Junge, sitz neben dem Lehrerpult!». Sie zielte mit dem Zeigefinger auf Leon.

«Ich habe nichts getan»

Die Lehrerin erwiderte: «Keine Widersprüche! Du hast ein Spiel offen.»

Der Junge fügte hinzu: «Ich suche nur die Aufgabe! Es war doch nur ganz kurz. Es war auch ein Versehen», sagte er.

Die Lehrerin schrie ihn an: «Hör zu! Ich befehle dir, neben dem Lehrerpult zu sitzen!» Die Klasse starrte ihn schweigend an, sodass er anfing leicht zitterte.

Leon setzte sich am Pult, worauf eine durchsichtige Mappe lag. Mit einem kurzen Blick sah er den Stundenplan des nächsten Schuljahrs. Allerdings war dort nicht der Name des Hauptlehrers drauf, sondern der der Stellvertreterin.

Auf dem iPad tippend, klingelte es.